Neue Sanktionspraxis

Begonnen von Miau, 14. Juli 2023, 14:33:40

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Miau

Hallo liebe Forumsmitglieder,
kann mir nicht vorstellen, das es den JC gefällt, nur max. um 30% beim Lebensunterhalt kürzen zu können.
Wäre es praktisch nicht möglich, innerhalb eines verhängten Sanktionszeitraums mehrfach und mehrmals (zusätzlich) zu sanktionieren, um letzlich dem eLB mehr als 30% zu kürzen?

Beispiel:  10% gekürzt, 1. Pflichtversäumnis, da ElB nicht zum Bewerbungstraining erschienen ist, Dauer 1 Monat.
Ca. 2 Wochen danach (also auf jeden Fall noch innerhalb des Sanktionszeitraums für das 1. Pflichtversäumnis) Vorladung beim SB mit RFB, eLB erscheint nicht.

Beginnnt dann die weitere Sanktion für die 2. Pflichtverletzung nach Ablauf des ersten Sanktionszeitraums oder sofort nach dem 2.versäumten Termin mit 20% und für 2 Monate und/ oder kann in einem solchen Fall zusätzlich  und gleichzeitig wegen Verletzung der Mitwirkungspflich sanktioniert werden, so dass man innerhalb von ca. 4 Wochen bei 30% oder bei geschickter Kombi von wer was was noch bei mehr als 30% innerhalb von 4 Wochen landet?
Wer weiß Bescheid? Freue mich auf eure Antworten.

BigMama

Nein. Mehr als 30 % sind nicht möglich.
Die Welt wird nicht von skrupellosen Verbrechern, finstren Kapitalisten oder machtgierigen Despoten regiert, sondern von einer gigantischen, weltumspannenden RIESENBLÖDHEIT.
Wer´s nicht glaubt, ist schon infiziert.
(Michael Schmidt-Salomon, GBS-Sprecher)

Phil_N

Zitat von: Miau am 14. Juli 2023, 14:33:40Hallo liebe Forumsmitglieder,
kann mir nicht vorstellen, das es den JC gefällt, nur max. um 30% beim Lebensunterhalt kürzen zu können.

Mehr als 30 % gehen nicht. Und davon abgesehen: Was heißt "gefällt"? Die Jobcenter setzen um, was der Gesetzgeber vorgibt. Das geschieht eher emotionslos. Meine Erfahrung ist, dass viele Jobcenter-Mitarbeiter es in Ordnung finden, dass es nur noch max. 30 % Sanktionen gibt.

Das deshalb, weil die wissen, dass Sanktionen über 30 % hinaus eben selten was bringen und im ungünstigsten Fall das Gegenteil des Beabsichtigten bewirken. Außerdem sind viele JC-Mitarbeiter auch aus moralischen Gründen nicht von 100%-Sanktionen überzeugt (außer bei manchen Leuten, wenn sie z. B. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Schwarzarbeit vermuten).

Bisher aber waren sie in manchen Fallkonstellationen gezwungen, heftigere Sanktionen zu verhängen. Das fällt nun weg. Und es gibt keine Konstallation, wo in einem Zeitraum X die Sanktionshöhe mehr als 30 % beträgt.

Irgendwie scheint bei manchen hier die Vorstellung zu herrschen, dass Jobcenter-Mitarbeitende in ihrem Büro sitzen und sich irgendwie freuen, wenn sie endlich wieder wen sanktionieren können. Das ist aber Quatsch - so jedenfalls meine Erfahrung.

Sanktionen werden zumeist emotionslos verhängt, wenn die Jobcenter-Mitarbeiter meinen, dass gegen Mitwirkungspflichten (Bewerbungen schreiben, Maßnahme-Teilnahme etc.) verstoßen wurde. Das erfolgen in der Regel ganz emotionslos Anhörungen, und wenn keine Antwort darauf kommt (oder eine, die als unzureichend erachtet wird), wird die Sanktion verhängt. 

Ich kenne wirklich viele Jobcenter-Mitarbeiter, und darunter ist keiner, dem es eine innige Freude bereitet, zu sanktionieren. Die tun das, weil der Gesetzgeber es ihnen aufträgt, wenn ihr Ermessen bei null liegt.

Ich selbst plädiere zwar für eine sanktionsfreie Grundsicherung, kann aber auch jene Menschen verstehen, die argumentieren, es müsse Sanktionen weiterhin geben, weil die ALG-II-Beziehenden von Steuergeldern lebten und daher von ihnen verlangt werden müsse, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um kein ALG II mehr zu erhalten. Und dann müsse es auch Strafen geben, wenn das nicht passiert.

Das wird von nicht wenigen Menschen als gerecht erlebt. Ich selbst stelle mir eher nicht die Frage, was nun gerecht ist, sonder was wirklich etwas bringt. Sanktionen sollen ja eine Wirkung erzielen. Es geht bei denen ja nicht in erster Linie um Bestrafung, sondern die Intention ist eine Verhaltensänderung, die durch die Sanktion erzielt werden soll.

Und das gelingt oft nicht. Es wäre meiner Meinung nach daher viel besser, noch deutlich stärker mit finanziellen Anreizen zu arbeiten. Also nicht so: "Wir nehmen dir was weg, wenn du XYZ nicht tust", sondern so: "Wir geben dir was extra, wenn du XYZ tust". Dadurch lässt sich mehr erreichen, meine ich.
"In jedem Dorf gibt es eine Fackel, den Lehrer, und jemanden, der dieses Licht löscht, den Pfarrer." (Victor Hugo)

Felixxx

Zitat von: Phil_N am 14. Juli 2023, 14:53:21Also nicht so: "Wir nehmen dir was weg, wenn du XYZ nicht tust", sondern so: "Wir geben dir was extra, wenn du XYZ tust". Dadurch lässt sich mehr erreichen, meine ich.
Das wäre eindeutig die richtige Praxis. Aber "kriegst du nicht, Alter" Habeck hat bereits bewiesen, wie wenig Interesse an so einer Herangehensweise seitens der Regierung besteht.

Miau

Zitat von: Phil_N am 14. Juli 2023, 14:53:21Irgendwie scheint bei manchen hier die Vorstellung zu herrschen, dass Jobcenter-Mitarbeitende in ihrem Büro sitzen und sich irgendwie freuen, wenn sie endlich wieder wen sanktionieren können. Das ist aber Quatsch - so jedenfalls meine Erfahrung.

Sanktionen werden zumeist emotionslos verhängt, wenn die Jobcenter-Mitarbeiter meinen, dass gegen Mitwirkungspflichten (Bewerbungen schreiben, Maßnahme-Teilnahme etc.) verstoßen wurde. Das erfolgen in der Regel ganz emotionslos Anhörungen, und wenn keine Antwort darauf kommt (oder eine, die als unzureichend erachtet wird), wird die Sanktion verhängt. 
Ich kenne wirklich viele Jobcenter-Mitarbeiter, und darunter ist keiner, dem es eine innige Freude bereitet, zu sanktionieren. Die tun das, weil der Gesetzgeber es ihnen aufträgt, wenn ihr Ermessen bei null liegt.

Schön, wenn es so wäre oder gewesen wäre wie du schreibst. Das Forum ist dagegen voll von gegenteiligen Erfahrungen der eLBs. Der Gesetzgeber hat bewusst EinVs und Kooperationspläne als reine Sanktionsinstrumente vorgesehen. Letzlich zwecks Kostenminimierung. Und die LSBs haben die Aufgabe dies umzusetzen. Dabei und bei anderen Gelegenheiten sind sie alles andere als "emotionslos".

Woher kennst du so viele SBs? Arbeitskollegen?

Positive Anreize zu setzen finde ich begrüßenswert, da motivierend. Bestrafungen bis hin zur existenzgefähredenden Sanktionen sind dies nicht. Sanktionsfreis Grundeinkommen ist gut, gefällt aber den Arbeitgebern nicht. Prekäre Arbeitsverhältnisse sichern ihre Profite. Wer sanktioniert die Arbeitgeber?

Sanktioniert werden sollten natürlich all jene, die erwiesenermaßen (und nicht auf bloße Vermutung hin) Leistungsmissbrauch bei Sozialleistungen betreiben.



Phil_N

Zitat von: Miau am 14. Juli 2023, 17:45:34Schön, wenn es so wäre oder gewesen wäre wie du schreibst. Das Forum ist dagegen voll von gegenteiligen Erfahrungen der eLBs.

Deine Schlussfolgerung, dass es ganz viele Probleme mit den Jobcenter im Land gäbe, weil viele Leute hier im Forum solche Probleme haben, ist ein klassischer Bestätigungsfehler. Eine Hilfe-Forum ist niemals repräsentativ für das Gesamt der ALG-II-Beziehenden, weil sich in Hilfe-Foren häufig Leute finden, die Hilfe suchen, weil sie schlechte Erfahrung gemacht haben.

Wer keine schlechten Erfahrung macht, sucht oftmals kein Forum auf. Daher kannst du vom Forum nicht verallgemeinern, wie auch "Kunden"-Zufriedenheitsbefragungen zeigen, die ein viel besseres Bild offenbaren als das, was hier im Forum gezeichnet wird.

Das heißt wohlgemerkt nicht, dass die Probleme der Leute hier im Forum nicht real wären. Sie sind es sicher. Sie sind nur eben nicht repräsentativ. Es läuft im Jobcenter insgesamt viel besser, als man den Eindruck gewinnen könnte, wenn man nur hier im Forum liest. Das ist eine Filterblase. 

Zitat von: Miau am 14. Juli 2023, 17:45:34Der Gesetzgeber hat bewusst EinVs und Kooperationspläne als reine Sanktionsinstrumente vorgesehen. Letzlich zwecks Kostenminimierung.

Mit Kostenminimierung hatte die EinV-Einführung rein gar nichts zu tun. Der Grund dafür, warum EinV eingeführt wurden, war ein Dreifacher:

  • Erstens wollte man Konkretisierung erreichen, dass den Leuten klar deutlich gemacht werden sollte, was sie erhalten und was man von ihnen erwartet.
  • Zweitens wollte man Verbindlichkeit kreieren, nach dem Motto: Du setzt deine Unterschrift unter das Schriftstück, dann hältst du dich auch eher dran.
  • Drittens wollte man sicherstellen, dass Sanktionen rechtssicher waren, indem in der EinV auf den Einzelfall bezogen spezifiziert wurde, was allgemein im Gesetzestext (SGB II) steht.

Dass es keineswegs nur darum ging, sichere Sanktionsmöglichkeiten zu konstruieren, zeigt sich schon daran, dass Sanktionen auch möglich sind, wenn  keine EinV existiert, jemand aber z. B. einer Maßnahmezuweisung nicht Folge leistet. Die Maßnahme sollte, musste aber nicht zwingend, in der EinV fixiert werden.

Zitat von: Miau am 14. Juli 2023, 17:45:34Woher kennst du so viele SBs? Arbeitskollegen?

Ehemalige Arbeitskollegen, ja. Ich habe mehrere Jahre in 3 Jobcentern gearbeitet. Außerdem habe ich im Rahmen einer Forschungsarbeit über 80 Fach- und Führungskräfte aus über 20 Jobcentern in Deutschland interviewt. Zudem bilde ich Fallmanager für Jobcenter aus und leite Trainingsseminare im Bereich Coaching und Beratung für Arbeitsvermittler unterschiedlicher Jobcenter.
"In jedem Dorf gibt es eine Fackel, den Lehrer, und jemanden, der dieses Licht löscht, den Pfarrer." (Victor Hugo)

Hansejunge

Zitat von: Phil_N am 14. Juli 2023, 14:53:21"Wir nehmen dir was weg, wenn du XYZ nicht tust", sondern so: "Wir geben dir was extra, wenn du XYZ tust". Dadurch lässt sich mehr erreichen, meine ich.

Wenn man nur den anrechnungsfreien Betrag des Einkommens von 100 Euro auf 200 Euro erhöhen würde oder sogar noch höher, dann würde das schon vieles bewirken. Die jetzigen 30 Prozent anrechnungsfrei ab 520 Euro bringen meiner Meinung nach nicht viel.

Wenn ich aber weiß, dass ich 200 so oder so mehr haben könnte, wenn ich denn wollte, ohne Probleme, dann ist hier der Anreiz meiner Meinung nach viel höher.

Klar, kommen dann wieder Leute um die Ecke und sagen, dann bräuchte man gar nicht mehr arbeiten gehen, aber das ist dann schon noch was anderes, weil man sich ja dennoch um einen "richtigen" Job bemühen muss (Bewerbungen, etc.)

Milla

ZitatDie jetzigen 30 Prozent anrechnungsfrei ab 520 Euro bringen meiner Meinung nach nicht viel.
Es bringt ja nicht mal etwas wenn man statt 400€ Job 520€ Job macht. Ein drittel mehr arbeiten für 24€ mehr. :lachen:
Die können mir nen Schuh aufblasen.
Abschieben schafft Wohnraum:  Deutschland hat Eigenbedarf!

Hansejunge

Ein für mich gelungener Anreiz wäre zum Beispiel auch, dass man auf der einen Seite sanktionieren kann, darf, muss, man aber andererseits sich das Geld wieder dazu verdienen darf.

Man hat dann halt nicht nur 100 Euro anrechnungsfrei, sondern für 1 Monat 150 / 2 Monate 200 / 3 Monate 250, je nach Grad der Leistungsminderung. So könnte man es selbst wieder "ausbügeln".

Milla

Die ganze Staffelei ist Käse. Die sollten generell bei geringfügigen AV 50/50 machen. Nur so kann man auch Anreiz schaffen Jobs anzunehmen die weniger gut bezahlt werden. Da hätte man bei 400€ 200€ mehr in der Tasche und würde rund 28 Stunden dafür arbeiten im Monat.
Abschieben schafft Wohnraum:  Deutschland hat Eigenbedarf!

Sheherazade

Minijobs sind keine schlechter bezahlten Jobs (Mindestlohn), sondern eine selbst auferlegte Arbeitszeitverkürzung.
"In Krisenzeiten suchen  die Intelligenten nach Lösungen, während die Schwachköpfe nach Schuldigen suchen." Totó 1898-1967

"Höher, schneller, weiter!" ist nicht das Problem. Das Problem ist: "Ich zuerst!", "Alles meins!" und "Mir doch egal!"

Leeres Portemonnaie

Zitat von: Sheherazade am 16. Juli 2023, 09:45:05selbst auferlegte Arbeitszeitverkürzung.


Manchmal auch eine Arbeitszeitverlängerung - nämlich von "null Stunden" auf "wenigstens ein paar Stunden".
Worüber viele Menschen schon glücklich sind. 
Wo bin ich denn bloß hingekommen, und wie ist das passiert? 😦 🤧

Sheherazade

Zitat von: Leeres Portemonnaie am 16. Juli 2023, 10:45:50Worüber viele Menschen schon glücklich sind. 

Schon klar. Hier war aber die Rede von Menschen, die einen höheren finanziellen Anreiz brauchen um wenigstens einen Minijob aufnehmen zu wollen.
"In Krisenzeiten suchen  die Intelligenten nach Lösungen, während die Schwachköpfe nach Schuldigen suchen." Totó 1898-1967

"Höher, schneller, weiter!" ist nicht das Problem. Das Problem ist: "Ich zuerst!", "Alles meins!" und "Mir doch egal!"

Phil_N

Dass die Anrechnungsoptionen im JC lukrativer werden müssen, damit sich arbeiten zu gehen deutlich mehr lohnt, sehe ich auch so.

Zu Minijobs sei gesagt, dass ich dafür wäre, die komplett wieder abzuschaffen. Meiner Meinung nach sollte jede Beschäftigung ab dem ersten Euro der vollen Sozialversicherungspflicht unterliegen. Schätzungen gehen davon aus, dass Minijobs allein in kleinen Betrieben bis zu 500.000 reguläre, sozialversicherungspflichtige Stellen verdrängen (siehe hier).

Minijob ist sehr oft gleich Niedriglohnjob. Das ist nicht nachhaltig, da der Niedriglohnsektor eben oftmals kein Sprungbrett in bessere Bezahlung ist. Ich habe selbst auch einige Leute im Bekanntenkreis, die gerne mehr arbeiten würden, aber nur einen Minijob bekommen (oder zwei), weil das für den AG günstiger kommt. Langfristig ist das für die Minijobber aber fatal - und für die Gesellschaft glaube ich auch.
"In jedem Dorf gibt es eine Fackel, den Lehrer, und jemanden, der dieses Licht löscht, den Pfarrer." (Victor Hugo)

madinksa

Zitat von: Milla am 15. Juli 2023, 22:46:41Die ganze Staffelei ist Käse. Die sollten generell bei geringfügigen AV 50/50 machen. Nur so kann man auch Anreiz schaffen Jobs anzunehmen die weniger gut bezahlt werden. Da hätte man bei 400€ 200€ mehr in der Tasche und würde rund 28 Stunden dafür arbeiten im Monat.

Ich fände 50/50 auch gut, würde dafür aber die 100€ Freibetrag komplett abschaffen.
Diese unsäglichen "100€-Jobs" sind völliger Quatsch und gehen in die völlig falsche Richtung. Wenn jemand nur 2-3 Stunden pro Woche arbeitet, kann er es auch gleich ganz lassen.
Und wenn nun jemand nur 150€ verdient und die 100€ Freibetrag als Fahrtkosten braucht, macht der Job vielleicht keinen Sinn.
Wenn man kein Bürgergeld bekommt, muss man auch schauen, wie die Kosten eines Jobs im Verhältnis zum Verdienst liegen.