Hartz IV wird zu Bürgergeld, zu mehr wird's nicht

Begonnen von Ottokar, 15. August 2022, 14:03:48

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Ottokar

(Bitte den "Nachtrag" unten beachten.)

Hartz IV wird zu Bürgergeld, zu mehr wird's nicht

Der erste Gesetzesentwurf (Referentenentwurf) zum Bürgergeld liegt vor (Quelle1) (Quelle 2).
Bitte beachten: es handelt sich um den ersten Gesetzesentwurf, der Inhalt kann sich im weiteren parlamentarischen Verfahren noch erheblich ändern.
Nachtrag: der Regierungsentwurf zum Bürgergeld liegt vor (Quelle). Der nachfolgende Text wurde entsprechend überarbeitet und die Änderungen farblich gekennzeichnet.

Wie hatten die Grünen doch so vollmundig verkündet:
"Wir werden die Grundsicherung grundlegend reformieren und damit Hartz IV durch das Bürgergeld ersetzen. Das Bürgergeld wird einfacher und auf Augenhöhe gewährt und ermöglicht selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben." (Quelle)
Eine Reform sieht anders aus, erst recht eine grundlegende.
Ersetzt wird zunächst mal in weiten Teilen nur der verhasste Name, das Meiste bleibt jedoch inhaltlich und in der Rechtswirkung unverändert.
Bei Licht betrachtet hat man eigentlich nur die Pandemie-Sonderregelungen (Vereinfachter Zugang ...) und die dem BVerfG angepasste Sanktionspraxis als Dauerregelungen ins Gesetz geschrieben. Also etwas das man bereits seit mehreren Jahren praktiziert.
Die Regelleistung wird nur an die aktuelle Inflation angepasst. Von der versprochenen Kindergrundsicherung ist weithin nichts zu sehen und auch nichts mehr zu hören.
Gehen wir nun etwas ins Detail.

Sanktionen
Das Bundesverfassungsgericht (AZ: 1 BvL 7 16) hatte bereits Ende 2019 der Sanktionspraxis einen Riegel vorgeschoben und erlaubte u.a. nur noch Sanktionen bis zu max. 30% der maßgeblichen Regelleistung ohne Beteiligung der Unterkunftskosten, ebenso keine Ungleichbehandlung von Personen unter 25. Dabei bleibt es auch, diese bereits seit fast 2 Jahren praktizierten Vorgaben des BVerfG wurden nun lediglich in die längst fällige Gesetzesform überführt.
Die Dauer der Sanktion einer Meldepflichtverletzung wurde auf einen Monat verkürzt, zudem darf während der 6monatigen Vertrauenszeit eines Kooperationsplanes erst die zweite Meldepflichtverletzung sanktioniert werden.
Die erste Sanktionen wegen Pflichtverstößen gegen § 31 SGB II soll lediglich 20% des Regelbedarfs betragen, erst ab der zweiten Sanktion beträgt die Sanktionshöhe 30%. (Es ist bislang nicht geregelt, wann eine erste, weitere oder wiederholte Pflichtverletzung vorliegt. Somit muss man davon ausgehen, dass es während des Leistungsbezuges eine 20%-Sanktion nur einmal geben kann.)


Kooperationsplan
Die Eingliederungsvereinbarung heißt nun "Plan zur Verbesserung der Teilhabe (Kooperationsplan), das Prinzip "Fordern" steht weiterhin an erster Stelle und mit Teilhabe das Ganze nicht das Geringste zu tun.
In den ersten 6 Monaten gilt eine "Vertrauenszeit", in der regelmäßig intensive Kontrollen durch das Jobcenter erfolgen, eine Verletzungen der (Mitwirkungs)Pflichten aus dem Kooperationsplan führt hier noch nicht zu Sanktionen.
An die Vertrauenszeit schließt sich eine zeitlich unbegrenzte "Kooperationszeit" an, diese ist in zwei Stufen unterteilt. Innerhalb dieser Kooperationszeit erfolgt bei der Verletzung einer Mitwirkungspflicht zunächst eine (nicht sanktionsbewehrte) Aufforderung, den Mitwirkungspflichten nachzukommen, das ist Stufe 1.
Wird erneut eine Mitwirkungspflicht verletzt, wird für die Mitwirkungspflichten ein sanktionsbewehrter Durchsetzungs-Verwaltungsakt mit Rechtsfolgenbelehrung erlassen. Jede danach erfolgende Pflichtverletzung wird dann sanktioniert. Das ist Stufe 2. Eine Rückkehr zu Stufe 1 ist möglich, liegt aber im Ermessen des Jobcenters.
Eine neue Vertrauenszeit beginnt lt. Gesetz erst, wenn der Leistungsbezug für mehr als sechs Monate unterbrochen war.

Von beiden Vertragspartnern kann ein Schlichtungsverfahren beantragt werden, wenn über den Inhalt des Kooperationsplanes keine Einigkeit hergestellt werden kann. Eine Pflicht zur Schlichtung besteht indes nicht, 4 Wochen nach Beginn des Schlichtungsverfahrens wird der Kooperationsplan als Verwaltungsakt erlassen, sollte bis dahin keine Einigung erzielt worden sein.
Bestehende Eingliederungsvereinbarungen gelten solange nach den gesetzlichen Regelungen für einen Kooperationsplan weiter (als de facto Kooperationsplan), bis ein Kooperationsplan erstellt wurde. D.h. das ab 01.01.2023 für jeden Leistungsbezieher mit einer Eingliederungsvereinbarung die Vertrauenszeit beginnt, welche dann zeitgleich mit der Frist des Sanktionsmoratoriums abläuft.
Im Gegensatz zur Eingliederungsvereinbarung hat der Leistungsbezieher beim Kooperationsplan keine Möglichkeit, die für das Jobcenter darin festgelegten Pflichten einzufordern. Der Kooperationsplan muss demnach wegen genereller einseitiger Benachteiligung des Leistungsbeziehers per se als sittenwidrig angesehen werden.
Mit den Regelungen zum Kooperationsplan soll zudem verhindert werden, dass dessen Inhalt der gerichtlichen Kontrolle von öffentlich-rechtlichen Verträgen (§§ 53 ff SGB X) unterliegt.

Eingliederungs- und Weiterbildungsmaßnahmen
Leistungsbezieher werden mit einem "Bürgergeldbonus" i.H.v. monatlich 75 Euro für die Teilnahme an solchen Maßnahmen geködert belohnt.
Wird nach der 6monatigen Vertrauenszeit gegen eine Pflicht aus dem Kooperationsplan verstoßen, entfällt der Anspruch auf den Bonus dauerhaft.

Ganzheitliche Betreuung
Neu ist die ganzheitliche Betreuung für jede Bürgergeld beziehenden Person, von den Grünen als ,,Coaching und aufsuchende Sozialarbeit" bezeichnet. Wenn es das Jobcenter für erforderlich erachtet, kann es eine ganzheitliche Betreuung anordnen oder in einem Kooperationsplan festlegen.
Das bedeutet nichts weniger, als das der Leistungsbezieher faktisch rund um die Uhr einen Coach und Sozialarbeiter an die Seite gestellt bekommt, egal ob er will oder nicht, der jeden einzelnen Lebensbereich umfassend kontrolliert und darin nach Gutdünken unter Einforderung von Mitwirkungspflichten bei der Betreuung eingreift. Das Jobcenter erfährt so buchstäblich alles über die Leistungsempfänger, ohne Ausnahme.
Diese umfassende Einmischung Dritter in den höchstpersönlichen Lebensbereich dürfte verfassungsrechtlich unzulässig sein.
Fakt ist, dass die ganzheitliche Betreuung die konsequente Weiterentwicklung und Ausweitung des bisherigen berufsbegleitenden Coachings ist, wenn es dem Gesetzgeber um umfassende Eingriffsrechte der Jobcenter in den höchstpersönlichen Lebensbereich von Leistungsempfängern geht.
Die Ablehnung oder Verweigerung der Mitwirkung bei einer solchen Maßnahme darf nicht sanktioniert werden.

Vermögen
1. In den ersten zwei Jahren ("Karenzzeit") wird nur erhebliches Vermögen berücksichtigt, dabei gilt ein Freibetrag von 60.000 Euro für die erste und jeweils 30.000 Euro für jede weitere Person in der Bedarfsgemeinschaft. Diese Karenzzeit gilt ab 01.01.2023 auch für Bestandsfälle.
Danach gilt ein Freibetrag von 15.000 Euro pro Person, wobei nicht genutzte Freibeträge auf andere Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft übertragen werden.
2. Für ein selbst genutztes Hausgrundstück gilt eine Wohnfläche von max. 140 qm als angemessen, die Größe der Nutzfläche spielt keine Rolle mehr. Für eine Eigentumswohnung gilt eine Wohnfläche von max. 130 qm als angemessen. Ab der 5. Person erhöhen sich diese Grenzen um jeweils 20 qm je weiterer Person.
3. Ein Kraftfahrzeug pro erwerbsfähiger Person ist nun unabhängig von seinem Verkehrswert nicht als Vermögen zu berücksichtigen. (im Regierungsentwurf nicht mehr enthalten)

Einkommen
Azubis unter 25 erhalten einen (Grund)Freibetrag auf ihre Ausbildungsvergütung i.H.v. 520 Euro, das entspricht in etwa dem BAföG-Bedarf.
Ab 01.07.2023 gelten neue Freibeträge für das Brutto-Erwerbseinkommen.
Stufe 1: 100€ bis 520€ = 20%
Stufe 2: 520,01€ bis 1000€ = 30%
Stufe 3: 1000,01€ bis 1.200€ = 10%
Alles was über 1.200€ hinaus geht, wird voll berücksichtigt.
Für Erwerbstätige ohne minderjährige Kinder ergibt sich dabei ein um maximal 48€ höherer Freibetrag.
Für Erwerbstätige mit minderjährigen Kindern erhöht sich der maximal mögliche Freibetrag lediglich um 18€, da die bisher dort greifende Erweiterung des Freibetrages der Stufe 3 auf 1.500€ Brutto-Einkommen entfällt.


Bedarfe für Unterkunft und Heizung
1. In den ersten zwei Jahren gelten die tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung als angemessen ("Karenzzeit"). Diese Karenzzeit gilt ab 01.01.2023 auch für solche Bestandsfälle, bei denen die tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung anerkannt wurden.
2. Verringert sich die Anzahl der Bewohner infolge eines Todesfalls, ist eine Senkung der Unterkunftskosten für die Dauer von 12 Monaten nicht zumutbar.

Regelsätze
Ab 01.01.2023 gelten folgende Regelsätze:
Alleinstehend: 502€
Partner: 451€
19-25 Jahre: 402€
15-18 Jahre: 420€
7-14 Jahre: 348€
0-6 Jahre: 318€
(Diese gelten auch im SGB XII.)


Weiteres
1. In § 14 "Grundsatz des Förderns" wird klargestellt, dass auch nicht arbeitslose erwerbsfähige Leistungsberechtigte zu fördern sind.
Ein Vollzeitjob schützt somit nicht mehr davor, sich einen besser bezahlten suchen zu müssen.
2. Für Erstattungsforderungen vom Jobcenter gilt eine Bagatellgrenze von 50 Euro.
3. Bei Leistungseinstellungen wegen fehlender Mitwirkung darf nun die Leistung aller Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft eingestellt werden, wenn die zu klärenden Umstände Auswirkungen auf deren Leistung haben, was üblicherweise der Fall ist. (im Regierungsentwurf nicht mehr enthalten)
4. Darlehen dürfen nicht aufgerechnet werden, wenn und solange bereits mehr als 10% 20% der Regelleistung von einer Aufrechnung betroffen ist.
5. Das Sanktionsmoratorium zur Nichtanwendung des § 31a SGB II endet mit dem Abschluss eines Kooperationsplans, spätestens mit Ablauf des 31.12.2023, je nachdem was zuerst eintritt. Das Sanktionsmoratorium zur Nichtanwendung des § 32 SGB II endet mit in Kraft treten des Bürgergeld-Gesetzes. Die Fristen aus dem Sanktionsmoratorium zur Nichtanwendung des § 31a SGB II und zur veränderten Anwendung des § 32 SGB II enden mit Ablauf des 1. Juli 2023. Die faktisch zu einer Verlängerung führende Regelung im Referentenentwurf wurde nicht in den Regierungsentwurf übernommen.
6. Die Frist für den Beginn einer neuen Karenzzeit für die Vermögensprüfung beträgt 3 Jahre ohne Leistungsbezug. (Referentenentwurf: 2 Jahre)
7. Die Pflicht, ab dem 63. LJ Altersrente beantragen zu müssen, wird bis Ende 2026 ausgesetzt. (Referentenentwurf: Pflicht entfiel)

Zusammenfassung
"auf Augenhöhe", "selbstbestimmt"? Davon ist nichts zu sehen, im Gegenteil:
Die Vertrauenszeit wird durch engmaschige Kontrollen des Jobcenters ad absurdum geführt, das Jobcenter darf seine Pflichten aus dem Kooperationsplan nun folgenlos nicht mehr erfüllen, und mit der ganzheitlichen Betreuung mischt sich das Jobcenter nun sogar paternalistisch in alle Bereiche des Lebens von Leistungsbeziehern ein. Politisch und gesellschaftlich ein Rückschritt und klarer Verstoß gegen das ,,Paternalismus-Verbot" des BVerfG, die nunmehr freiwillige Note ändert an diesem Umerziehungsparagraphen nichts.
An den in § 31 SGB II geregelten Sanktionen ändert sich nichts.
Mit den neuen Regelungen zur Förderung nicht arbeitsloser Erwerbsfähiger und dem Bürgergeldbonus wird der Druck zum willfährigen Verhalten von Leistungsbeziehern zudem weiter erhöht.
Die Karenzzeiten bei Vermögen und den Kosten für Unterkunft und Heizung kommen lediglich der, infolge des seit 2020 anhaltenden ,,Katastrophenzustandes" wirtschaftlich absteigenden (oder sollte man hier besser sagen: abstürzenden?) Mittelschicht zugute.
Die Änderungen bei der Einkommensanrechnung sind marginal.
Das man Azubis wirtschaftlich deutlich besser stellt, anstatt ihnen wie bisher ihre Zukunft in düsteren Farben zu zeigen, ist zu begrüßen. Die harte Realität lernen sie noch früh genug kennen.
Ebenso ist zu begrüßen, dass Eigenheimbesitzer nicht mehr ihr Haus veräußern müssen, nur weil die Kinder ausgezogen sind, oder dass man nach dem Tod des Partners nicht mehr unmittelbar aus der dann zu teuren Wohnung ausziehen muss.
Unter dem Strich könnte man konstatieren, dass sich Verbesserungen und Verschlechterungen ungefähr die Waage halten.
Die deutliche Schieflage bei Pflichten und Rechten des Kooperationsplans zum Nachteil von Leistungsbeziehern ist jedoch nicht hinnehmbar. Zumal deutlich erkennbar ist, dass man sich mit dem Kooperationsplan der gerichtlichen Kontrolle von öffentlich-rechtlichen Verträgen (§§ 53 ff SGB X) und damit auch der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes dazu entziehen will.

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Inhaltliche Änderungen
20.09.2022: Artikel an den Regierungsentwurf angepasst, ergänzt und überarbeitet.
11.10.2022: Korrekturen und Ergänzungen zum Regierungsentwurf . Änderungen zur besseren Lesbarkeit.

Nachtrag
Am 23.11.2022 hat der Vermittlungsausschuss erhebliche Änderungen durchgewunken:
- die 6monatige sanktionsfreie Vertrauenszeit wird gestrichen, dafür wird die Sanktionshöhe nun mehrfach gestaffelt: 1. Sanktion 10%, 2. Sanktion 20%, ab der 3. Sanktion 30%, d.h. wenn man das 3. Mal gegen Pflichten verstoßen hat, wird jeder weitere Pflichtverstoß generell mit 30% sanktioniert, solange man sich ununterbrochen im Leistungsbezug befindet;
- die 2jährige Karenzzeit für den Vermögenseinsatz und bei den Kosten für Unterkunft und Heizung wird auf 12 Monate halbiert;
- der in der Karenzzeit geltende höhere Vermögensfreibetrag wird für den Haushaltsvorstand auf 40.000€ (zuvor 60.000€) und jede weitere Person auf 15.000€ (zuvor 30.000€) verringert.
Meine Beiträge beinhalten oder ersetzen keine anwaltliche Beratung oder Tätigkeit.
Für eine verbindliche Rechtsberatung und -vertretung suchen Sie bitte einen Anwalt auf.


Ottokar

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