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Bundesverfassungsgericht: Hartz IV - Sanktionen größtenteils verfassungswidrig

Begonnen von Ottokar, 05. November 2019, 17:24:51

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Ottokar

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat heute (05.11.2019) entschieden, dass der Großteil der Sanktionsregelungen im SGB II verfassungswidrig sind.
Konkret sind Sanktionen von mehr als 30% des Regelsatzes verfassungswidrig.
Verfassungswidrig ist auch die starre Fristenregelung für die Dauer einer Sanktion von 3 Monaten sowie das Fehlen einer Härtefallklausel, welche eine Nichtsanktionierung ermöglicht. Zudem muss das Jobcenter von einer Sanktion absehen, wenn die Zwecke des Gesetzes nur erreicht werden können, indem eine Sanktion unterbleibt.
Das BVerfG hat dem Gesetzgeber aufgegeben, die Sanktionsregelungen unter Beachtung der von BVerfG dazu abgegebenen Erklärungen und Auflagen zu überarbeiten.
Bis zu einer Neuregelung dürfen Sanktionen nur noch in Höhe von 30% des maßgebenden Regelbedarfs verhängt werden. Dabei muss das Jobcenter zuvor prüfen, ob nicht ein individueller Härtefall vorliegt, der eine Minderung des Existenzminimums für den Betroffenen unzumutbar macht. Liegt ein solcher Härtefall vor, darf trotz Pflichtverletzung keine Sanktion erfolgen.
(Anm. d. Verfassers: Denkbare Gründe für einen solchen Härtefall sind z.B. alle Fälle, die in der Rechtsprechung bereits als Härtefall anerkannt sind, wie chronische Erkrankungen u.ä.)
Außerdem muss das Jobcenter die Sanktion zum Ende des Monats beenden, indem der Betroffene der Pflicht nachträglich nachkommt, oder - wenn das nicht mehr möglich ist - für die Zukunft die Erfüllung der Pflicht ernsthaft zusichert.
(Quelle: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2019/bvg19-074.html)

Damit sind auch die härteren Sanktionsregelungen für unter 25jährige verfassungswidrig.
Da lt. Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, bedarf es keiner separaten Entscheidung zu den Sanktionen für unter 25jährige. Das BMAS täte gut daran, die Entscheidung des BVerfG gemäß Art. 3 Abs. 1 GG anzuwenden. Ebenso täte der Gesetzgeber gut daran, bei der Neuregelung der Sanktionsparagraphen Art. 3 Abs. 1 GG anzuwenden, andernfalls werden beide eine weitere Ohrfeige vom BVerfG kassieren.

Da lt. Begründung des BVerfG Sanktionen von mehr als 30% des Regelsatzes generell verfassungswidrig sind, gilt diese Grenze in teleologischer Auslegung auch für Sanktionen wegen Meldeversäumnissen - und natürlich für Sanktionen gegen unter 25jährige.

Es gibt keinen Bestandsschutz für verfassungswidrige Sanktionsbescheide!
Das heißt konkret, dass ab dem 06.11.2019 keine Sanktion mit mehr als 30% vollzogen werden darf!
Diese Rechtsprechung des BVerfG ist von den Jobcentern ab sofort anzuwenden, auch auf Sanktionen, die aktuell vollzogen werden, oder deren Vollzug bereits durch Sanktionsbescheid angekündigt wurde.





Nachtrag

Da im Zusammenhang mit diesem Urteil immer wieder die gleichen Fragen auftauchen, hier eine kurze Zusammenfassung.

1.
Frage:
Meine Sanktion i.H.v. 60% ist war bereits vor dem Urteil beendet. Kann ich fordern, dass diese rückwirkend auf 30% abgesenkt wird und ich Geld nachgezahlt erhalte?
Antwort:
Nein. Das BVerfG hat klargestellt, das für bestandskräftige Sanktionsbescheide die Regelung in § 40 Abs. 3 SGB II als Sonderregelung zu § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X gilt. Das bedeutet im Klartext, dass die Entscheidung des BVerfG auf bestandskräftige Sanktionsbescheide erst ab dem 06.11.2019 anzuwenden ist. Bereits beendete Sanktionen können nicht rückwirkend angefochten werden.

2.
Frage:
Ich habe einen Sanktionsbescheid über 100% erhalten und dagegen Widerspruch eingelegt, über den das Jobcenter noch nicht entschieden hat. Darf die Sanktion nun noch erfolgen?
Antwort:
Nein. Aufgrund des Widerspruches wurde der Sanktionsbescheid nicht bestandskräftig. Das BVerfG hat klargestellt, das nicht bestandskräftige Sanktionsbescheide, die über eine Minderungshöhe von 30% hinaus gehen, aufzuheben sind.
Das gilt im Übrigen auch für laufende Klagen gegen Sanktionen, nicht jedoch für laufende Überprüfungsanträge von Sanktionen.


3.
Frage:
Derzeit werde ich mit 60% sanktioniert. Darf das Jobcenter diese Sanktion weiterführen?
Antwort:
Nein. Das BVerfG hat klargestellt, das für bestandskräftige Sanktionsbescheide die Regelung in § 40 Abs. 3 SGB II als Sonderregelung zu § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X gilt. Das bedeutet im Klartext, dass die Entscheidung des BVerfG auf bestandskräftige Sanktionsbescheide ab dem 06.11.2019 anzuweden ist. Somit darf die Sanktionshöhe ab dem 06.11.2019 die Höhe von 30% des maßgebenden Regelbedarfs nicht mehr überschreiten. Darüber hinausgehende Beträge müssen nachgezahlt werden.

4.
Frage:
Gilt die Begrenzung auf 30% des maßgebenden Regelbedarfs für alle Sanktionen?
Antwort:
Ja. Das BVerfG hat die Höhe der Minderung des Regelbedarfs bei Pflichtverletzungen im SGB II generell auf 30% des maßgebenden Regelbedarfs begrenzt. Welche Pflichtverletzung der Sanktion zugrunde liegt, oder wie alt der Betroffene ist, spielt dabei keine Rolle.

5.
Frage:
Ich habe eine Anhörung zum möglichen Eintritt einer Sanktion erhalten. Wenn ich mich in dieser Anhörung bereit erkläre, der Pflicht doch noch bzw. zukünftig nachzukommen, kann ich dann den Eintritt einer Sanktion verhindern?
Antwort:
Ja. Das BVerfG hat hat klargestellt, dass eine Sanktion umgehend zu benden ist, sobald der Betroffene der Pflicht nachträglich nachkommt, oder - wenn das nicht mehr möglich ist - für die Zukunft die Erfüllung der Pflicht ernsthaft zusichert. Geschieht dies vor Eintritt der Sanktion, darf das Jobcenter diese somit nicht mehr vollziehen.

6.
Frage:
Ich habe eine Anhörung zum möglichen Eintritt einer Sanktion erhalten. Ich bin schwer krank und könnte bei einer Sanktion die Mehrkosten für die benötigten Medikamente nicht mehr aufbringen. Darf mich das Jobcenter trotzdem sanktionieren?
Antwort:
Vermutlich nicht. Das BVerfG hat klargestellt, dass Jobcenter vor Erlass einer Sanktion prüfen müssen, ob eine Minderung des Existenzminimums für den Betroffenen wegen einer individuellen Härte unzumutbar ist. Liegt ein solcher Härtefall vor, darf trotz Pflichtverletzung keine Sanktion erfolgen.
Betroffene sollten deshalb bereits in der Anhörung darauf hinweisen, wenn bei ihnen ein solcher Härtefall vorliegt und diesen nachvollziehbar beschreiben.

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