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Teilhabechancengesetz: Die Zwangsarbeit für ALG II-Bezieher kommt

Begonnen von Ottokar, 09. Juli 2018, 11:26:08

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Ottokar

Teilhabechancengesetz: Die Zwangsarbeit für ALG II-Bezieher kommt

Mit der großspurig als ,,Teilhabechancengesetz" (10. SGB II-ÄndG) betitelten Änderung des SGB II wird de facto die Zwangsarbeit für ALG II-Bezieher eingeführt und legitimiert.
Danach sollen "sehr arbeitsmarktferne" Personen, welche seit sechs Jahren ALG II erhalten, für die Dauer von 5 Jahren zwangsweise einem Arbeitgeber zugewiesen werden.
Lediglich Aufstocker, die in diesem Zeitraum durchgehend abhängig vollzeitbeschäftig waren, sind davon ausgenommen. Alle anderen ALG II Bezieher - die in Teilzeit arbeiten, wiederholt nur kurzfristige Beschäftigungsverhältnisse hatten, selbständig erwerbstätig sind (auch in Vollzeit), oder arbeitslos - müssen damit rechnen, vom Jobcenter zwangsrekrutiert zu werden. Und natürlich erwirbt der Zwangsarbeiter dabei keinen Anspruch auf ALG I.

Als Dank der Nation werden dem Arbeitgeber in den ersten zwei Jahren 100% der Lohnkosten aus Steuermitteln erstattet, danach wird die Lohnkostenerstattung jährlich um 10% reduziert. Auf die fünfjährige Dauer der Zwangsbeschäftigung gerechnet erhält der Arbeitgeber insgesamt 88% der Lohnkosten aus Steuermitteln erstattet.

Und natürlich wird der Zwangsrekrutierte auch im ersten Beschäftigungsjahr vom Jobcenter beschäftigungsbegleitend zwangsbetreut, d.h. das Jobcenter mischt sich in alle Belange des nun nicht mehr Arbeitslosen ein, sowohl private als auch berufliche. Damit offenbart sich auch der Gesetzestitel ,,Teilhabechancengesetz" als Teilhabe des Jobcenters am Leben des Zwangsbetreuten.
An was der zwangsbetreute Zwangsarbeiter selbst teilhaben soll, der als kostenlose Arbeitskraft wettbewerbsverzerrende Wertschöpfung erbringt, erschließt sich jedoch nicht, denn als potentiellem Vernichter von Arbeitsplätzen wird die übrige Belegschaft dem Zwangsarbeiter kaum wohlgesonnen sein.
Damit wird, nach den regulär Beschäftigten und den Leiharbeitern, eine dritte Klasse an abhängig Beschäftigten erschaffen und auf der untersten Stufe des Arbeitsmarktes etabliert.

(09.07.2018, Ottokar)

Nachtrag vom 11.07.2018: Klarstellungen

Update 10.11.2018
Am 08.11.2018 wurde das Teilhabechancengesetz (10. SGB II-ÄndG) vom Bundestag beschlossen.
Gegenüber der ursprünglichen Fassung wurde geändert, das bei betrieblicher Tarifbindung auch Tariflohn gezahlt wird, andernfalls bleibt es beim gesetzlichen Mindestlohn.
Die maximal 5jährige Zwangszuweisung soll insbesondere Arbeitslose treffen, die Schwerbehindert sind oder ein mind. Kind haben.
Es bleibt dabei, dass in diesen zu 88% aus Steuern subventionierten Arbeitsverhältnissen auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu zahlen sind, d.h. es besteht danach kein Anspruch auf Arbeitslosengeld.
Meine Beiträge beinhalten oder ersetzen keine anwaltliche Beratung oder Tätigkeit.
Für eine verbindliche Rechtsberatung und -vertretung suchen Sie bitte einen Anwalt auf.


Ottokar

#1
Hintergrundinformationen und Gesetzgebungsprozess

Zum o.g. Artikel finden Sie hier weitere Informationen.
Zur Diskussion im Forum geht es hier.


Hintergrundinformationen
- 18.07.2018:
Der neue § 16i SGB II ist gar nicht neu. Tatsächlich handelt es sich um den bisherigen § 16e SGB II, der arbeitgeberfreundlich "aufgebohrt" wurde, wie im direkten Vergleich beider §§ sofort erkennbar wird (Teile des § 16e SGB II wurden sogar unverändert übernommen):
- die Anfangsförderung wurde von 75% auf 100% erhöht,
- die fallweise notwendige sozialpädagogische Betreuung wurde durch das generelle Zwangscoaching ersetzt,
- Arbeitsverträge dürfen befristet werden,
- der Arbeitgeber erhält 50% der Kosten für erforderliche Qualifizierungen des zugewiesenen Arbeitnehmers erstattet.
Im Gegenzug wird der § 16e SGB II so massiv umgestaltet, dass er de facto nur noch bei Midi-Jobs greift, und wegen der neuen Regelungen zu Nachbeschäftigungszeit, Rückforderungsanspruch und Förderungsende bei Wegfall der Hilfebedürftigkeit gegenüber dem § 16i SGB II für Arbeitgeber deutlich unattraktiv wird.

Sowohl die BAG der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) e.V. als auch die Nationale Armutskonferenz (nak) haben Stellungnahmen zum Teilhabechancengesetz abgegeben:
- Stellungnahme der BAG der Freien Wohlfahrtspflege
- Stellungnahme Nationale Armutskonferenz

- 19.07.2018:
Es gibt bereits reges öffentliches Interesse an kostenlosen Zwangsarbeitern, die dürfen den Arbeitgeber dann aber auch wirklich nichts kosten. Das Arbeitgeber bei tariflicher Bindung den Zwangsarbeitern dann doch noch was für ihre Arbeit bezahlen müssten, weil die Förderung auf den Mindestlohn begrenzt ist, kritisieren insbesondere der Sozialverband VdK und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) als umzumutbar und Ablehnungsgrund. (Quelle)

- 22.07.2018
Schon am 08.07.2018, also 10 Tage vor dem Beschluss des Gesetzentwurfes, hat der Leiter der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, gegenüber der Saarbrücker Zeitung, seine Definition von "sehr arbeitsmarktfernen Personen" vorgestellt: Eltern, die morgens lieber im Bett bleiben, statt sich um ihre Kinder zu kümmern.
Außerdem hat Detlef Scheele, Zitat: "präzisiert, dass es bei dem geplanten, öffentlich geförderten Arbeitsmarkt nicht um ein arbeitsmarktpolitisches Instrument geht, mit dem Menschen in den ersten Arbeitsmarkt gebracht werden sollen".
Und natürlich finden sich Vertreter vermeintlich seriöser Print- und Onlinemedien, die  - wie hier auf nordbayern.de - diese Aussage ungefiltert zur Tatsache verklären und damit Fake-News verbreiten, denn im Gesetzentwurf, und von Seiten der Bundesregierung, ist etwas Anderes zu lesen und zu hören.
Da ist die Rede davon, Zitat: "Mit diesem Gesetz werden neue Teilhabechancen für Langzeitarbeitslose auf dem allgemeinen und dem sozialen Arbeitsmarkt geschaffen." und "Um mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung von Personen mit einer längeren Dauer von Langzeitarbeitslosigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen und zu unterstützen, wird § 16e Zweites Buch Sozialgesetzbuch neu gefasst".


Gesetzgebungsprozess
- 18.07.2018: Das Bundeskabinett hat den Gesetzentwurf des ,,Teilhabechancengesetz" (10. SGB II-ÄndG i.d.F. des Referentenentwurfs vom 11.06.2018 17:10 Uhr) beschlossen; dieses wird als Nächstes dem Bundestag zur Beratung vorgelegt
(Quelle: Pressemitteilung des BMAS v. 18.07.2018)
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