Sozialgericht Gotha hält Hartz IV Sanktionen für verfassungswidrig

Begonnen von Diskus, 27. Mai 2015, 15:25:32

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Gast28527

Sorry, nur kurz zum Verständnis mancher Leser, die jetzt ein wenig irritiert sind, hier als Beispiel:

Wirkung der Urteile

Die Rechtsfolgen der Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Rechtsakts sind ebenfalls von Land zu Land unterschiedlich.

Die Wirkung der Feststellung der Verfassungswidrigkeit tritt teils von Rechts wegen ein, ohne dass es einer besonderen Anordnung des Verfassungsgerichts bedarf. In einigen Staaten ist das Gesetz ab dem Zeitpunkt des verfassungsgerichtlichen Urteils unwirksam, d. h. Gerichte und Verwaltung dürfen das Gesetz nicht mehr anwenden, und der Gesetzgeber wird innerhalb einer Frist zur Neuregelung verpflichtet (Spanien). In den meisten Staaten wird das Gesetz dann rückwirkend für nichtig befunden, d. h. auch bereits ergangene, auf ihm beruhende Entscheidungen, z. B. von Strafgerichten, werden aufgehoben (Italien, Griechenland, USA).

Manche Verfassungsgerichte können die Rechtsfolge selbst festlegen (Belgien, Deutschland, Portugal); in diesen Fällen kann das Verfassungsgericht die Unwirksamkeit ab dem Zeitpunkt des Urteils oder die rückwirkende Nichtigkeit anordnen, aber auch die gegenüber der Nichtigkeit des Gesetzes mildere Rechtsfolge, dass der Gesetzgeber zur Neuregelung verpflichtet wird, das Gesetz aber bis dahin weiter angewendet werden darf (sog. Appelentscheidung).

http://de.wikipedia.org/wiki/Verfassungsgerichtsbarkeit

Gast18959

Zitat von: Gast28527 am 11. Juni 2015, 18:23:19Manche Verfassungsgerichte können die Rechtsfolge selbst festlegen (Belgien, Deutschland, Portugal); in diesen Fällen kann das Verfassungsgericht die Unwirksamkeit ab dem Zeitpunkt des Urteils oder die rückwirkende Nichtigkeit anordnen, aber auch die gegenüber der Nichtigkeit des Gesetzes mildere Rechtsfolge, dass der Gesetzgeber zur Neuregelung verpflichtet wird, das Gesetz aber bis dahin weiter angewendet werden darf (sog. Appelentscheidung).

Beide Regelungen hatten wir bereits.

1. Regelsatzurteil Asylbewerber  2012

2. Regelsatzurteil SGB II   2010

Wenn das BVerfG die Sanktionsparagraphen für verfassungswidrig erklären sollte, wird es schwerlich die Weiterverwendung Dieser bis zur Gesetzesänderung erlauben.
Die weitere Gültigkeit der Regelsätze von vor dem 2010er Urteil ergab sich aus dem Umstand, dass das Gericht die Summe der bis dahin gezahlten Leistungen für nicht evident unzureichend hielt.
Beim 2012er Urteil wurde das anders gesehen, darum sofortige Aufstockung auf Hartz IV Niveau.

Gast22317

@Hilfloses Mädel. Eine meiner Dokumente für die Existenz der Sanktionqoute war doch aus dem Selben JC und selben Zeitraum wie dein Doku.
Hab aber noch eine Interne Mail für die Existenz der Sanktionqoute aus dem Jahr 2011
- Interne-Mail_201109.jpg

Sowie einen Planungsbrief der BA aus 2013, darin wird die Sanktionqoute als Kennzahl erwähnt. (Seite 6)
- 121119_Vorstandsbrief_Planung_2013_final.pdf

Und da ich gerade dabei bin, irgendwie hängt es ja auch mit den Sanktionen zusammen: der Spiegel Bericht zum Rechnungshofbericht 2011.
Auszug:
"Der wahre Sinn der sinnlosen Kurse: ,,Es geht darum, so viele wie möglich aus der Berechnung zu bekommen, mit allen Mitteln, denn wir haben zum Jahresende ganz viele mit Arbeitslosengeldanspruch 720 Tage; die alle zusammen können unsere gute Arbeit zunichte machen."
Und weil offenbar der Druck so gewaltig ist, das angepeilte Ziel zu packen, fällt die nächste
Mail noch drastischer aus: ,,Über Sinn und Unsinn brauchen wir da nicht diskutieren, das dient einzig und allein unserer Zielerreichung. Mir ist es dabei vollkommen schnuppe, welche ,Fortbildung' durchlaufen wird. Wichtig ist, dass die Langläufer rausfallen."
"
- 2013 - Mit allen Mitteln-Rechnungsghof.pdf

Und was mir eben noch mit über den Weg gelaufen ist : Die Zielvereinbarung der BA für 2013, darin Festlegung einer Integrationsquote (Seite 6)  - auch das führt sicher zu Sanktionsdruck
- SGB-II-ZielVbg-2013.pdf

[gelöscht wegen Erreichen der Speicherfrist]

Gast29263

Ich hab mittlerweile das Gefühl, dass das Wort "Quote" irgendwie missverstanden wird. Es gibt ja auch die Arbeitslosenquote..... Eine Sanktionsquote ist demnach keine festgelegte Summe an Sanktionen, die erreicht werden muss (z.B. pro Monat 100 Sanktionen).
So etwas lese ich auch aus den ganzen Mails und Dokumenten nicht.

Die Sanktionsquote sagt lediglich aus, in wie vielen Fällen (Prozentzahl) sanktioniert wurde.
Genauso wie die Arbeitslosenquote aussagt wie hoch die Arbeitslosigkeit in Prozent ist https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Indikatoren/Konjunkturindikatoren/Arbeitsmarkt/arb210.html

Gast22317

Sehe ich auch so.
http://de.wikipedia.org/wiki/Quote

Im Falle JC Friesland stand ja auch
"Das JC Friesland erhöht die Sanktionsquote spätestens ab Juni 2007 bis Oktober 2007 auf die Quote von 2,2% für alle erwerbslosen erwerbsfähigen Hilfebedürftige (eHb) und 3,1% für arbeitslose eHb."

Gast18959

Zitat von: Orakel am 11. Juni 2015, 10:07:13Diese Argumentation könnte deutlich zur Versachlichung der Diskussion auch in diesem Thread beitragen! Zugegeben, eine gewisse Bereitschaft zum Nachdenken, setzt dies allerdings voraus ...

Diese auch:

RN 121
"Nach den angegriffenen Regelungen sind die monatlichen Pauschalleistungen jedoch so berechnet, dass nicht etwa alle, sondern bei Alleinstehenden 132 € weniger und damit insgesamt lediglich 72 %, bei Kindern je nach Altersgruppe zwischen 69 € und 76 € weniger und damit 75 % beziehungsweise 78 % der in der EVS erfassten Konsumausgaben der den unteren Einkommensgruppen zugehörigen Referenzhaushalte als existenzsichernd anerkannt werden (vgl. Münder, SozSich Extra September 2011, S. 63 <79>). Zwar ist es begründbar, einzelne Verbrauchspositionen nicht als Bedarfe anzuerkennen (oben C II 2 e). Wenn in diesem Umfang herausgerechnet wird, kommt der Gesetzgeber jedoch an die Grenze dessen, was zur Sicherung des Existenzminimums verfassungsrechtlich gefordert ist. Verweist der Gesetzgeber auf einen internen Ausgleich zwischen Bedarfspositionen, auf ein Ansparen oder auch auf ein Darlehen zur Deckung existenzsichernder Bedarfe, muss er jedenfalls die finanziellen Spielräume sichern, die dies tatsächlich ermöglichen, oder anderweitig für Bedarfsdeckung sorgen. "
http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2014/07/ls20140723_1bvl001012.html

Mit anderen Worten, die Regelsätze sind jetzt schon grenzwertig, jede weitere Kürzung sichert die verfassungsrechtlich garantierte Existenz nicht mehr !
Da die 70 - 30 Regel auch für ungültig erklärt wurde bleibt kein Raum mehr für Sanktionen.

MichaK

Zitat von: Gast18959 am 11. Juni 2015, 20:38:20Mit anderen Worten, die Regelsätze sind jetzt schon grenzwertig, jede weitere Kürzung sichert die verfassungsrechtlich garantierte Existenz nicht mehr !


dabei hofft aber das BVerfG auch nur, dass "das Licht" seines Spruches die Gerichte zur verfassungskonformen Auslegung veranlasst. Vorausgesetzt, wer klagt überhaupt.
Das nennt sich Fürsorge. Ich lach da drüber. Es bedarf also schon der verfassungskonformen Auslegung durch die Gerichte oder aber Gesetzesänderungen, damit der Antragsteller überhaupt das Minimum bekommt. Es wird gar nicht mehr in Erwägung gezogen, dass die JC das wollen oder können.....

Tja, der Gesetzgeber operiert an der Grenze, wo sie auch liegen mag, die Grenze. Nächstes mal vielleicht bei 71 Prozent? Und wovon die Prozente? Von den Unteren 20, von den Unteren 10 oder vom Alleruntersten? Die Gestaltung der Fürsorge ist dem Gesetzgeber wichtig. Alles gut, alles prächtig, alles ok.  :mocking:

Gast18959

Da hast du vollkommen recht, allerdings hat der Gesetzgeber nunmal genau diese Grenzen gezogen, muss sich daher eben selber an seine Grenzen halten.
Kann auch nicht sagen, 30% weniger is auch toll weil nur essen und schlafen die Würde prima schützen.

Gast27461

Ich wundere mich immer wieder, wie auf das Grundgesetz beharrt wird, wo doch einige die einfachsten Benimmregeln nicht beachten können.

Gast13437

Zitat von: Gast27461 am 12. Juni 2015, 06:55:00wo doch einige die einfachsten Benimmregeln nicht beachten können
Konkret? Welche "einige" und warum?
Und: Es darf durchaus aufs GG beharrt werden, auch ohne den aufdiktierten Anspruch der Vollkommenheit.

Demokratie und GG brauchen möglichst viele Menschen, die überzeugt dafür eintreten. Knigge als "Argument" anzuführen wirkt auf mich, wieder mal wie ein argumentum ad hominem um herabzuwürdigen.

Gast28527

Zitat von: Gast13437 am 12. Juni 2015, 09:33:09Demokratie und GG brauchen möglichst viele Menschen, die überzeugt dafür eintreten.
Sorry, diesen Satz kann ich irgendwie nicht so richtig in meinen Gehirnwindungen unterbringen.  :empathy:

Gast13437

Mit anderen Worten, je mehr Menschen aktiven Widerstand gegen die fortschreitende Entdemokratisierung sowie anti-rechtsstaatliche Verfahrensweisen leisten und auf die Einhaltung der Grundprinzipien von Menschenrechten, GG, Demokratie und Rechtsstaat bestehen, um so schwieriger für die Verfassungsfeinde im Bundestag.

PS: Streitgespräch zwischen den Herren Wolfgang Neškovic und Uwe Berlit

Gast26037

Zitat von: Gast13437 am 12. Juni 2015, 12:57:31Mit anderen Worten, je mehr Menschen aktiven Widerstand gegen die fortschreitende Entdemokratisierung sowie anti-rechtsstaatliche Verfahrensweisen leisten

Richtig, nur mit Demos und Petitionen allein wirst du da nichts erreichen. Und da fängt es an das jeder Bürger auf sein Art dieses Unrechtssystem im kleinen angreift. Viele Wege führen nach Rom und zusammen ergeben sie einen Strom! :zwinker:

                                                       :flag: :flag:

Gast13437

Demeter, ja und damit jeder Bürger überhaupt erst mal das Unrecht erkennt braucht es politische Bildung / Kenntnisse zu unserer Verfassung, GG, Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte.

Ab Minute 27 spricht Berlit - der gleich zu Beginn sagt: "gleichwohl gehöre ich zu den Verfassungsbrechern" - vom Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers und in 27:50 folgenden Satz:

"Grundrechtsdogmatisch sind Sanktionen kein Eingriff in das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, sondern eine abgesenkte Form der Leistung wegen vermeintlicher oder tatsächlicher geringerer Schutzwürdigkeit."

Dazu mal Artikel 1 Grundgesetz: (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Aus meiner Sicht kann es also keine höhere oder geringere Schutzwürdigkeit geben. Jeder Mensch ist gleich an Würde und Rechten.

Gast26037

Zitat von: Gast13437 am 12. Juni 2015, 14:18:08damit jeder Bürger überhaupt erst mal das Unrecht erkennt braucht es politische Bildung / Kenntnisse zu unserer Verfassung, GG, Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte.

Es wäre zwar schön wenn es ausführlich z.B. an Schulen gelehrt würde, ist aber nicht gewollt. Es ist auch nicht unbedingt von Nöten. Jeder Mensch hat einen Gerechtigkeitssinn und viele spüren das in diesem System nicht alles ( fast nichts mehr) rechtens ist und das nicht nur im Hartz IV- Bereich. Das für die Wirtschaft aufgeweichte Arbeitsrecht wird für mich schon längere Zeit vor das GG gestellt. Wenn aber viele Menschen nach ihren Möglichkeiten dieses komplette Unrechtssystem boykottieren wird es an mehreren Stellen geschwächt und der Kollaps kann dann nicht ausbleiben.

                                                                                 :flag: :flag: